Ach du schöne Weihnachtszeit

Weihnachtsdorf und Stummfilmkino im Lebendigen Adventskalender

Manchmal ist es komisch: Internationale Architekturfans bekommen spontanen Speichelfluss, wenn von den vier Schinkelschen Vorstadtkirchen in Berlin die Rede ist. Nehmen wir – durchaus absichtlich – als Beispiel die St. Pauls Kirche an der Ecke Badstraße/Pankstraße: einschiffig, von Pilastern umrankt, mit dem weit hinausragenden Traufgesims und dem von Spitta später ergänzten Campanile präsentiert sie sich als Juwel.

(Die anderen drei Vorstadtkirchen stehen übrigens auf dem Leopoldplatz, in der Invalidenstraße und in Alt-Moabit) Die Nachbarschaft hingegen läuft täglich daran vorbei und bekommt gar zu oft nicht mal mit, was das überhaupt für ein Gebäude ist. „Was, das ist echt ’ne Kirche?“

Pfarrerin Veronika Krötke freut sich über die vielen Menschen in St. Paul


Trotz ihrer prominenten Lage und Erscheinung bleibt die Kirche für viele Kiezbewohner*innen ein Mysterium. Zudem wirkt sie durch die Umzäunung, gerade vor dem Haupteingang, besonders geschlossen und abgeschottet. Klar, dass dies einer unkomplizierten nachbarschaftlichen Begegnung nicht unbedingt förderlich ist. Da auch die St. Pauls-Gemeinde um Pfarrerin Veronika Krötke dies registrierte, aber an letzterem Interesse hat, beschloss sie, die Kirche für Veranstaltungen aus dem Kiez weiter und öfter zu öffnen. Eine gute Gelegenheit dazu war der 29. November, als sich ein Türchen im Lebendigen Adventskalender des Badstraßenkiezes auftat.

Auch wenn dieses Foto aus unerfindlichen Gründen liegt (danke, Backend) – die Veranstaltung steht unter den besten des Jahres


Für die Kirche hat das Weihnachtsfest einen viel tieferen Sinn als den, der uns durch Werbeclips und Berieselungs-Gedudel in der Adventszeit suggeriert wird. Was liegt also näher, als eine sich um Weihnachten drehende Veranstaltung in einer Kirche anzusiedeln?! Genau dies taten die QM-geförderte Projekte „Kiezkosmos“, „Alt bleibt Neu“ und „Süß + Salzig“, als sie bei Pfarrerin Veronika Krötke anfragten, ob sie ein Türchen des Lebendigen Adventskalenders im QM-Gebiet Badstraße in der St. Pauls Kirche aufklappen lassen können. Und so kam es, dass an diesem Freitag vor dem 1. Advent ein Weihnachtsdorf vor den Türen der Kirche seine Stände aufbaute und die Kirche selbst und ihr Umfeld mit weihnachtlichen künstlerischen Aufführungen und Angeboten erfüllte. Während draußen der Weihnachtsmann und der Ballonkünstler Andi kleine und große Gesichter zum Strahlen brachten, konnten die Besucher*innen an den Ständen nach kleinen Weihnachtsgeschenken stöbern oder mit einem Becher Punsch und einer Waffel in der Hand an der Feuerschale miteinander ins Gespräch kommen.

Das Weihnachtsdorf  nahm vor der Kirche Platz


Matthias Neumann von „Alt bleibt Neu“ hatte Holzpuzzle und Hör-Memories in der Kirche aufgebaut, mit denen er nicht nur Kinder, sondern auch ganze Familien in seinen Bann zog. Für den musikalischen Rahmen war ebenfalls gesorgt. Zunächst erzählten die Wedding Weihnachts Wings mit Kostproben aus dem Mini-Musical „Die Mäuse von Nazareth“ die Weihnachtsgeschichte auf bezaubernde neue Weise. Die KALIBANIs präsentierten ein buntes Song-Potpourri und anschließend brachte der Moabiter Chor „Sing Around the World“ mit mehrstimmigem Gesang die Kirche zum Klingen. 

Komponist und Pianist Richard Siedhoff (vorn) im Gespräch mit Moderator Volker Kuntzsch


Ein bunter, lebendiger Tag war das für die Kirche und ihre Besucher, nicht zuletzt auch deshalb, weil das Kirchencafé gleichzeitig auf eine Stück Kuchen mit Kaffee einlud. Und so kamen auch viele Nachbar*innen, die sonst keinen Fuß in die Kirche bekommen, hinzu und zeigten sich beeindruckt. Pfarrerin Krötke meint hocherfreut: „Ich persönlich habe mich sehr über die vielen verschiedenen, gerade jüngeren Leute gefreut, die an diesem Tag in die Kirche stromerten. Das ist für unsere Kirchengemeinde im Gesundbrunnen in gar keiner Weise selbstverständlich. Und ich entdecke „meinen“ Kiez dadurch wieder neu. Ich erhoffe mir von solchen gemeinsamen Veranstaltungen, dass auch Kirche mehr im Kieznetzwerk verankert ist und als Teil eines lebendigen „Kiezkosmos“ wahrgenommen wird.“ 

Rattert sehr auratisch: Der 16mm-Projektor


Zum Abschluss des guten Tages gab es noch ein besonderes Highlight. Wer kennt sie nicht, die alten Stummfilmhelden, die auf herrlich chaotische Weise tapsig und gleichzeitig hochgekonnt durch ihr Leben wanken und die Lachmuskeln ihrer Beobachter strapazieren. Vor wenigen Jahren noch lockten Klassiker wie „Western von gestern“ Millionen vor die Mattscheibe. Und um wieviel besser ist es, wenn die musikalische Begleitung zu solchen Leckerbissen der Filmgeschichte nicht aus der Konserve kommt, sondern live dazu gespielt und in Teilen improvisiert wird – jedenfalls dann, wenn dies ein Profi tut. „Süß und Salzig“, dem QM-geförderten Projekt mit dem Leitspruch „Kiezkino und mehr“, ist dies mit dem Weimarer Pianisten Richard Siedhoff eindrucksvoll gelungen. Unter den cineastischen Sahnestückchen des Jahres jedenfalls wird dieser Abend einen besonderen Platz einnehmen.

Schon das Rattern des von Siedhoff selbst mitgebrachten und bedienten 16-mm-Projektors weckt nostalgische Gefühle. Und als dann die Kinostars aus dem frühen 20. Jahrhundert wie Harold Lloyd, Buster Keaton, Felix the Cat und natürlich Charlie Chaplin über die Leinwand im Altarraum der Kirche flackern, fühlt das Publikum sich tatsächlich um Jahre zurück versetzt. Gut gefüllt war die Kirche, als Richard Siedhoff die ersten Takte erklingen lässt, und als er nach gut zweieinhalb Stunden (inklusive 30 Minuten Pause) die Finger ein letztes Mal von den Tasten hebt sind es eher mehr als weniger Leute, die das Leinwandgeschehen verfolgen. Zwischendurch hat oft genug das helle Lachen (nicht nur) der Kinder die Kirche erfüllt und man wundert sich, wie gut 100 Jahre alte Witze noch funktionieren. Und es ist unglaublich, wie gut die gezeigten Aktionen der Darsteller in den oft lange ungeschnittenen Sequenzen eingetaktet sind.

Richard Siedhoff bei der Arbeit


Absolut bemerkenswert: Siedhoffs Anteil am Gelingen des Abends. Schon rein sportlich betrachtet ist die pausenlose Begleitung von zwei Mal einer Stunde Film eine Höchstleistung. Aber was darüber hinaus noch kreativ hinzu kommt, lässt sich mit Worten nur schwer beschreiben. Nur so viel: Jedes der selbst komponierten Arrangements sitzt, oft ergeben die kleinen ironischen Anspielungen auf einzelne Szenen einen künstlerischen Mehrwert, der den Sehgenuss drastisch steigert – etwa dann, wenn Harold Lloyd vor seinen Verfolgern in eine Mülltonne flüchtet und Siedhoff asiatische Klänge zu dem Bild intoniert, wenn der Entkommene mit dem Deckel auf dem Kopf an einen Chinesen erinnernd in die Kamera schaut. Nur für ein, zwei Takte – aber gerade richtig und so passend, dass Musik und Bild gemeinsam Lachsalven erzeugen. Bravo dem Pianisten!

Nun traurig über den verpassten Abend zu sein, lohnt sich nicht. Krötke und die beteiligten Projekte denken schon über eine Wiederholung im kommenden Advent nach. Bis dahin empfehlen wir die Stummfilm-Reihe im Babylon Mitte. Auch dort ist Richard Siedhoff bisweilen zu hören.

Text und Fotos: Johannes Hayner