Vom Essen und der Moral
Kostenlose Essensausgabe vor der St.-Pauls-Kirche jeden Mittwoch von 13 – 14:30 Uhr
“Erst kommt das Fressen, dann die Moral”, so heißt es in Brechts Dreigroschenoper. Jetzt mal die Aussage bewusst missverstanden und ganz ins Detail geguckt – da kann man es auch andersrum sagen: “Erst kommt die Moral – und dann das Essen”. So war es jedenfalls hier im Badstraßenkiez der Fall …
Cool & The Gang(way): Das Gangway-Team vor der Kümmelküche gemeinsam mit Birgit Bogner (rechts)
Vor-Ort-Termin in der Heidebrinker Straße, Kümmelküche. Vier Menschen in schwarzen T-Shirts beladen einen Transporter. Der Schriftzug “Gangway” ziert Auto und Bekleidung. Im Fenster der Kümmelküche lehnt ein elegant gekleideter Herr und beobachtet, wie Essen verladen wird. Es ist Tuncay Gary, Leiter der Literatur- und Theaterwerkstatt in der Lichtburg-Stiftung. Seine Kollegen von der Lernwerkstatt “Kümmelküche” kochen seit Mitte Mai jeden Mittwoch für Obdachlose und andere Bedürftige im Badstraßenkiez. Das Essen wird in einer gemeinsamen Aktion des QM-Projektes “Kiezkosmos”, von Gangway e.V. und der Evangelische Kirchengemeinde an der Panke kostenlos vor der St.-Pauls-Kirche verteilt. Und Tuncay Gary? Der liefert sozusagen den geistigen Überbau mit seiner Literaturwerkstatt für Senioren. “Nicht nur was für den Gaumen, sondern auch für den Geist”, schmunzelt der Schauspieler, Autor und Regisseur. Gemeinsam mit den Senior*innen stellt er Kochrezepte und Kochtexte zusammen, vervielfältigt diese und gibt sie, als eine Art literarisches Dessert, mit den Speisen ab. Ob die Kümmelküche die Rezepte nachkoche? Nein, so Tuncay, die meisten Rezepte seien ohnehin Fiktion mit eher literarischem als kulinarischem Grundgehalt. Wir überlassen Herrn Gary der Textproduktion und folgen dem Food-Truck dorthin, wo sich Pank- und Badstraße kreuzen.
Pfarrerin Veronika Krötke (links) stellt die Möglichkeiten der Kirchgemeinde gern zur Verfügung
Vor der St.-Pauls-Kirche wartet Pfarrerin Veronika Krötke auf uns. Freundlich lächelnd schließt sie die Tore zum Haupteingang der Kirche auf. Dort werden in Windeseile zwei Tische aufgestellt, auf denen nun die portionierten Speisen platziert werden. Heute gibt es ein vegetarisches Curry, erläutert Melanie Stiewe vom QM-Projekt Kiezkosmos. “Wir hatten auch schon Matjes und Senfeier, je nachdem, womit die Kümmelküche uns überrascht. Lecker war es jedenfalls immer.” Die Kümmelküche kocht zwischen 130 und 180 Portionen. Der Großteil wird hier verteilt, mit ca. 30 – 40 Portionen ziehen die Gangway-Straßensozialarbeiter*innen zum Leo weiter, wo der zweite Verteilort ist.
Birgit Bogner und Melanie Stiewe von Kiezkomos gehen jeden Mittwoch mit einem guten Gefühl nach Hause
Mit der Resonanz auf die Aktion sind alle zufrieden, egal ob man Melanie Stiewe, Birgit Bogner (Kiezkosmos), Veronika Krötke oder Banu Küçük von Gangway e.V. fragt. An der langen Liste von Beteiligten (und das sind lange nicht alle, die heute hier sind) sieht man schon, dass sich viele für eine gute Sache zusammengetan haben. Banu Küçük berichtet, dass sie und ihre Kolleg*innen schon zu Anfang der Coronazeit das Anliegen verspürten, den bedürftigen Menschen zu helfen. Es war ihnen als aufsuchende Straßensozialarbeiter*innen nur wichtig, auch “ihre” Jugendlichen in die Aktion einzubeziehen. Das ist gelungen, wie auch ihr Kollege Birkan Özçelik erzählt. Die jungen Leute helfen bei der Bestückung und Pflege des Gabenzauns, bei Übersetzungen, befestigen Plakate und Banner und kümmern sich darum, dass das Angebot im Kiez ankommt.
Der Gabenzaun vor der St.-Pauls-Kirche wird in der Nachbarschaft gut angenommen – in beide Richtungen
Überhaupt, der Gabenzaun. Er ist die Keimzelle der Zusammenarbeit. Als sich in den ersten Tagen und Wochen der Kontaktbeschränkungen herausstellte, dass gerade sozioökonomisch schlecht gestellte Menschen am meisten unter den Maßnahmen leiden, verspürten hier wie in vielen anderen Kiezen engagierte Menschen die moralische Verpflichtung, zu helfen. Freilich war dabei die Beachtung der Abstandsregelung Bedingung – weshalb es zu diesem eher anonymen Format kam. Schon vor der Errichtung des Gabenzauns am 6. April kreuzten sich die Wege von Gangway e.V., Kiezkosmos und der Evangelische Kirchengemeinde an der Panke. Gemeinsam riefen sie den Gabenzaun ins Leben. Die Gemeinde, die mit “Laib & Seele” bereits Erfahrungen mit der kostenlosen Ausgabe von Lebensmitteln hat (jeden Samstag um 12:00), stimmte spontan zu, ein weiteres Format in dieser Richtung zu unterstützen: Kiezkosmos stand in Kontakt mit der Kümmelküche, die anbot, Essen für die Essensausgabe zu kochen, Gangway e.V. und die Evangelische Kirchengemeinde an der Panke waren sofort von dieser Idee begeistert und so entstand eine weitere Kooperation unter den Dreien.
Dieses leckere Curry kommt aus der Kümmelküche
Das Angebot ist neu und auch die Akteure sind neu in diesem Metier. Birgit Bogner erzählt, dass die Essensausgabe natürlich ursprünglich kein originärer Bestandteil des QM-Projektes “Kiezkosmos” war. Aber nachdem sämtliche Projektaktivitäten zunächst auf Eis lagen und sich an anderen Stellen großer Bedarf auftat, nahm Kiezkosmos Gabenzaun und Essensausgabe in Abstimmung mit dem QM-Team in ihr Programm auf. Bereut haben das weder Birgit Bogner noch Melanie Stiewe: “Es ist so ein wunderbares, zeitgemäßes Projekt. Wenn man hier steht, bekommt man so viel zurück und man geht mit dem Gefühl nach Hause, etwas wirklich Sinnvolles gemacht zu haben.” Auch im Kiez macht das Projekt ein gutes Gefühl, wie Birkan Özçelik berichtet: “Teilweise spenden uns Menschen, die es offensichtlich auch nicht so “dicke” haben, Geld. Einfach, weil sie das Angebot gut und wichtig finden. ‘Ich habe jetzt gerade etwas und will es an euch weitergeben’, das haben sie uns gesagt.”
Banu Küçük und Birkan Özçelik (Gangway) holten die “Kunden” auch in der U-Bahn ab
Die Gangway-Kolleg*innen sind auch in die U-Bahn hinabgestiegen, haben Menschen angesprochen und auf das Angebot hingewiesen. Mit ihrer unkomplizierten Art und ihrer Street-Erfahrung kommen sie bei den Leuten gut an. Der Erfolg gibt ihnen Recht: Die Mahlzeiten sind oft nach kurzer Zeit verteilt, da es sich sehr schnell im Kiez herumgesprochen hat und die bedürftigen Menschen den Essensausgabetag im Kalender dick unterstrichen haben. Länger als 90 Minuten sind sie an keinem Mittwoch hier gewesen. Banu Küçük: “Solange die Kümmelküche für uns kocht, werden wir das Essen auch weiterhin den Bedürftigen zukommen lassen.”
Pfarrerin Krötke wird dem wohl nicht im Wege stehen: “Unsere Gemeinde wollte ohnehin gern etwas in dieser Richtung machen. Wir hatten auch schon andere Konzepte angedacht. Als dann Kiezkosmos und Gangway e.V. mit ihrer Anfrage an uns herantraten, dachten wir: “Perfekt!” Für die Gemeinde ist das Angebot ohnehin mit einem relativ geringen Aufwand verbunden, da das Essen aus Hygienegründen in Einmalgeschirr verpackt ist. Und da – Stichwort Abstandsregeln – das Verspeisen vor Ort nicht erwünscht ist, bleibt auch wenig zurück. So ist Frau Krötke mit dem ganzen Projekt mehr als einverstanden: “Ich freue mich sehr darüber, weil es genau das widerspiegelt, was ich mir für die Aktivität unserer Gemeinde im Kiez wünsche. Wir wollen gemeinsam mit anderen Akteuren etwas machen, was auch ein wenig in die Gemeinde hineinstrahlt und damit die Öffnung der Kirche in den Kiez vorantreiben.”
Seit Mitte Mai gibt es die Aktion nun schon – und sie soll weiterlaufen. Das Kernteam lädt alle, die Lust haben, sich daran zu beteiligen, ein, mitzumachen. “Es ist einfach eine wertvolle und extrem befriedigende Sache, die wir gern mit der Nachbarschaft teilen möchten”, sagt Birgit Bogner. Natürlich ist Kirchenmitgliedschaft keine Voraussetzung, lacht sie.
Wer sich also vorstellen kann, ehrenamtlich einmal oder auch gern mehrmals zur St.-Pauls-Kirche zu kommen, wendet sich bitte an Melanie und Birgit unter smart@artem-berlin.de
Text und Fotos: Johannes Hayner