Was ist eigentlich Migration

Die Aktionswochen gegen Rassismus in der Fabrik Osloer Straße

Es ist 9:20 Uhr morgens, und wir laufen die Osloer Straße aus Richtung S-Bahnhof Bornholmer entlang. Die morgendliche Sonne dieses 12. März scheint uns ins Gesicht, und unsere Füße tragen uns rechts abbiegend in einen großen Hinterhof. Über dem Eingang steht groß „Fabrik Osloer Straße“, hier sind wir richtig.

Unser Ziel ist die NachbarschaftsEtage der Fabrik Osloer Straße, genauer gesagt das Nachbarschaftscafé im ersten Stock. Kaum angekommen, finden wir uns in einem großen Raum mit Küche und Tischkreis wieder, an dem sich ausgiebig unterhalten wird. Die Luft ist gefüllt von frisch duftendem Kaffee und Tee. Wir werden mit einem freudigen Hallo begrüßt und stellen uns erst einmal vor. Wir sollen uns einfach wie zuhause fühlen, und so ähnlich fühlt es sich auch an. Die großen Fenster der alten Fabrik werden von Licht durchflutet und der Raum ist rustikal, aber nicht altmodisch eingerichtet. Woanders würde man das Ganze vielleicht als “vintage“ bezeichnen, hier sind die Möbel tatsächlich 40 Jahre alt.

Nachbarschaftsetage weniger rot                                                                             
Die drei Personen, die wir hier so früh antreffen, sind die Organisator*innen des Cafés: Stefanie Tragl, Aynur Pinarbasi und Maike Janssen. „Noch ist es ein bisschen früh, die meisten kommen eh‘ erst gegen 10“, erklärt uns Aynur. Der perfekte Moment, um ein paar Fragen zu stellen. „Was hat es mit dem heutigen Nachbarschaftscafé auf sich?“ Die Antwort ist ganz einfach, erklärt uns Stefanie Tragl. Gerade findet die Aktionswoche gegen Rassismus statt, und die NachbarschaftsEtage hat sich gemeinsam mit dem Projekt „Mal laut gedacht“ entschieden, eine Aktion zu veranstalten. Was gibt es für einen besseren Ort als hier im Nachbarschaftscafé, wo so oder so die unterschiedlichsten Menschen zusammenkommen und sich austauschen?! So auch heute, wie wir feststellen.

Während wir uns weiter unterhalten, kommen immer mehr Leute dazu. Drei ältere Herren, ein Ehepaar und ein weiterer Mann Mitte 40 trudeln ein und setzen sich zu uns an den Tisch. Jeder kennt hier jeden, die meisten kommen schon seit Jahren jeden Mittwoch zum Klönschnack zusammen – und das kann man spüren. Die Stimmung ist ausgelassen, die Gespräche sind entspannt und wir hören erst einmal einfach nur zu.

NachbarschaftsEtage 01

Die Letzen, die durch die Tür kommen, sind Katja Korshikova und ihre Kollegin Bettina Pinzl. Beide sind Teil des „Mal laut gedacht“-Teams von Demokratie in der Mitte und haben sich die politische Bildung im Quartier zur Aufgabe gemacht. Ihr Ziel ist es, Bildungsangebote für Menschen zu schaffen, die sich sonst wenig von solchen Angeboten angesprochen fühlen. Während Katja eine Pinnwand aufbaut und verschiedene Flyer neben uns auf einen Tisch legt, wird uns erklärt, was genau hier passieren wird. „Heute reden wir über Migration“, erklärt Aynur. „Genau“, sagt Katja und setzt sich zu uns an den Tisch. Mit einer kurzen Vorstellungsrunde und einigen witzigen Details sind wir uns schnell nähergekommen, auch wenn sich die meisten ohnehin kennen. Dann übernimmt Katja das Wort und erklärt, was Migration eigentlich bedeutet. Migration ist ganz allgemein gefasst die Wanderung von Menschen, von Punkt A nach Punkt B. Dafür kann es verschiedene Gründe geben, zum Beispiel Naturkatastrophen, Krieg, politische Verfolgung, aber auch wirtschaftliche Not. Die Gründe sind so vielfältig wie die Menschen an sich. Dahinter stecken individuelle Schicksale.

NachbarschaftsEtage 15

An diesem Morgen geht es um den Austausch, nicht um Frontalunterricht. Und so konfrontiert uns Katja direkt mit zwei Fragen. “Wie sieht mein Weg von zuhause bis zur Fabrik Osloer Straße aus?“ Und: „Welche Bilder, Orte, Plätze, die ich auf dem Weg gesehen habe, verbinde ich mit Migration?“ Man setzt sich in kleinen Gruppen zusammen und fängt an, zu überlegen. Aynur erzählt viel vom Kiez, wie dieser von Migration geprägt ist und was für Erfahrungen sie damit gemacht hat. Wir unterhalten uns über die Schönheit der Vielfalt, über das Essen, vor allem hier im Wedding, den Austausch, der durch Migration entsteht und über Möglichkeiten des Zusammenkommens, die vielen Menschen leider verborgen bleiben. Nach nur 15 Minuten tönt der Gong und es beginnt die Ergebnis-Runde. Unsere Gruppe ist die erste, die ihre Erfahrungen vorstellen darf. Es gibt viele interessante Dinge zu hören. Eine Gruppe erzählt davon, wie sie Migration in Schulen oder Spielplätzen wahrnehmen, eine andere über den Beitrag von Migration zur Weltgeschichte und auch zur Berliner Entwicklung früher und heute.

NachbarschaftsEtage 05

Es wird von der Arbeit in den 70er und 80er Jahren erzählt und davon, wie wenig Herkunft dort eine Rolle spielte. Schließlich ging es dabei ums Ergebnis und nicht um die Wurzeln anderer Menschen. Wir landen in einem sehr emotionalen Gespräch. Es geht um hautnahe Erfahrungen mit Flucht und Verfolgung, um damals und heute und um die Unterschiede unter den Generationen mit migrantischem Hintergrund. Inzwischen ist es 12:30 Uhr und die Zeit fühlt sich an wie verflogen, doch die Aktionswoche gegen Rassismus ist noch lange nicht vorbei.

NachbarschaftsEtage 03

Wie schön es sein kann, wenn verschieden Menschen aufeinandertreffen, zeigt nicht nur das Nachbarschaftscafé, sondern auch das Projekt PaSch – Patenschaften für Schulkinder. PaSch ist ein Patenschaftsprojekt der NachbarschaftsEtage. Dabei dreht sich alles um die Unterstützung von Grundschulkindern im Wedding. Viola Hoppe erklärt uns das Ganze ein wenig näher.

Miteinander und voneinander lernen ist das Hauptziel des Projektes. Patinnen bzw. Paten und ihre Patenkinder treffen sich einmal in der Woche, um miteinander Zeit zu verbringen. Was sie dann machen, kann ganz unterschiedlich aussehen. Egal ob Hausaufgaben machen, ins Museum gehen oder einfach mal Fußball spielen, man kann kreativ werden in der Freizeitgestaltung und eigene Interessen und Fähigkeiten einbringen. Die Ehrenamtlichen schenken den Patenkindern Zeit und Aufmerksamkeit und stehen als erwachsene Bezugsperson zur Seite. So lernen beide die Welt des anderen und viel Neues kennen. Gerade sucht das PaSch-Projekt dringend neue Patinnen und Paten, um “im Kleinen zu wirken und Großes bewirken zu können“, so Viola. Schließlich braucht es Erwachsene aus der Nachbarschaft, die Zeit und Lust haben, sich einmal in der Woche für (mindestens) ein Jahr auf ein Patenkind und damit auf eine andere Sichtweise auf die Welt einzulassen. Kinder hier im Kiez haben oft wenig Fördermöglichkeiten, um ihre Selbstwirksamkeit erfahren zu können. Genau das möchte PaSch ändern. Um für eine offene Gesellschaft zu sorgen und gegen Hürden anzugehen, bietet PaSch schon seit 2010 diese Bildungspatenschaften an. Hin und wieder gibt es kleine Infoveranstaltungen für Menschen, die sich vorstellen können, eine Patenschaft zu übernehmen. Die nächste findet am 30.04.24 um 18:30 Uhr im “Kamine und Wein“ in der Prinzenallee 58 statt. Wer Zeit und Interesse daran hat, ist herzlich eingeladen.

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Und noch eine Veranstaltung der Aktionswoche gegen Rassismus fand in der NachbarschaftsEtage statt. Geht man am Eingang des Hinterhofes einfach geradeaus, kommt man in einen kleinen Raum mit langem Tisch. Hier findet der Poetry-Slam Workshop von Sami El-Ali, mit Künstlernamen Sami El Poet, statt. Der renommierte Poetry-Slammer und Sozialarbeiter aus dem Wedding steht schon seit Jahren mit Erfolg auf der Bühne und hat sich das Inspirieren und Ermutigen durch Poesie zur Aufgabe gemacht. Vor einigen Jahren begann er also damit, Workshops für Jugendliche zu veranstalten. So einer findet auch heute statt, allerdings mit Poetry-Slam und anschließendem Fastenbrechen. Die Stimmung in dem kleinen Raum ist herzlich und warm, einige der Jugendlichen kennt Sami bereits aus vorherigen Workshops. Sami erklärt uns erst einmal, was Poetry-Slam überhaupt bedeutet. Kurz danach geht es auch schon ans Papier. Mit mehreren kleinen Übungen werden wir und die Teilnehmenden immer näher ans kreative Schreiben herangeführt. Erst mit Song-Zeilen, dann mit Mindmaps und schlussendlich mit richtigen Slam-Texten. Die Köpfe dampfen, doch angespannt ist die Atmosphäre keineswegs. Wir machen uns langsam aus dem Staub und lassen die jungen Kreativen weiter grübeln. Gerade bei einem Thema wie Rassismus ist Sensibilität besonders wichtig. Schließlich geht es um Ausgrenzung, Unverständnis, Angst und vor allem um die Gefühle und Erfahrungen von Menschen. Wir lassen, wie von Sami erbeten, den Leuten ihren Safe-Space, in dem sie lernen können, sich auszudrücken und verabschieden uns, dieses mal ohne Fotos, leise aus dem Raum.

Der kleine Einblick in diese wichtige Woche zeigt Engagement und Motivation des Teams in der Fabrik Osloer Straße. Ihnen ist es wichtig, sich mit Themen und Menschen aller Art auseinander zu setzen, diese in Kontakt zueinander zu bringen und das voneinander Lernen zu lernen. Alter, Wurzeln und Aussehen spielen hier keine Rolle. Jeder ist willkommen, egal ob 80 oder 15 Jahre alt. Hier gibt es Raum und Sicherheit, sich auszudrücken, kreativ zu sein und zu lernen, ohne dabei kontrolliert oder bewertet zu werden. Die Fabrik Osloer Straße hat mit der NachbarschaftsEtage und den verschiedenen Angeboten einen Raum zum Wohlfühlen geschaffen, gerade in der Woche gegen Rassismus hat dies einen großen Stellenwert. Orte wie diese sind wichtig und werden gebraucht. Wir kommen auf jeden Fall wieder!

Bilder und Text: Nils Hansen